Der Reformator Riis und seine vielen Rollen

Jacob A. Riis kämpfte auf vielfältige Weise für seine Sache und nutzte viele verschiedene Medien. Er war Journalist, Fotograf, Autor und Dozent und wurde schließlich zu einem wichtigen Sozialreformer.

Journalist in New York City

„In den unzähligen Gassen, schmalen Durchgängen und versteckten Seitenwegen, über die nur die Mieteintreiber überblick haben, teilen sie die Unterschlupfe, die die baufälligen Gebäude zu bieten haben, mit allen formen von Scheusslichkeiten von den Müllhalden und Mülltonnen der Stadt.“

Nach einer langen Reihe niederer Tätigkeiten und drei harten Jahren, in denen er von der Hand in den Mund lebte und häufig auf der Straße oder in einer Arrestzelle schlief, bekam Jacob A. Riis 1873 endlich eine Anstellung als Journalist bei einer Lokalzeitung. Er fand seine Berufung als Kriminalreporter für die Zeitungen New York Tribune und Evening Sun, eine Rolle, die er 23 Jahre lang ausfüllte. Hier erlangte er tiefgehende und intime Einblicke in das Leben in den schlimmsten Armenvierteln von New York, in deren Wohnblocks Millionen armer, hart arbeitender Immigranten hausten. Ganze Familien oder ein Dutzend Männer und Frauen konnten in einem vielleicht 3,5 x 3,5 m großen Raum zusammengepfercht sein, wo sie „5 cents a spot“ bezahlten – 5 Cents für ein Fleckchen Fußboden zum Schlafen.

Riis‘ Markenzeichen war es, Kriminalität, Tod, Kinderarbeit, Obdachlosigkeit, schreckliche Lebens- und Arbeitsbedingungen und Ungerechtigkeit in den Slums von New York anzuprangern. Dies kombiniert mit seinem starken protestantischen Glauben an moralische Eigenschaften und Arbeitsethik führte zu seiner ganz eigenen Sichtweise, was getan werden musste, um die Armut zu bekämpfen, angesichts der Gleichgültigkeit der reichen Oberschicht und der Politiker. Später entwickelte Riis eine enge Arbeitsbeziehung und Freundschaft zu Theodore Roosevelt, der zu jenem Zeitpunkt Polizeichef war. Gemeinsam gingen sie nachts durch die Slums, um die Verhältnisse näher zu untersuchen. Viele von Riis‘ Ideen hinsichtlich nötiger Reformen zur Verbesserung der Lebensbedingungen machten Eindruck auf den zukünftigen Präsidenten und wurden später von ihm umgesetzt.

Fotograf

„Meine Schriften machten keinen grossen Eindruck – das machen diese Dinge selten, wenn sie nur mit Worten ausgedrückt werden – doch meine Negative, noch triefend aus der Dunkelkammer, haben ihnen Nachdruck verliehen.“

Heute ist Riis vor allem für seine Fotografien berühmt, die dauerhaft im Museum of the City of New York zu sehen sind und bei einer neuen Ausstellung in Zusammenarbeit mit der Library of Congress (14. April – 5. September 2016) gezeigt wurden. Riis selbst sah sich jedoch nie als leidenschaftlicher Fotokünstler und sagte sogar: „Ich bin überhaupt kein guter Fotograf.“ Er nutzte die Fotografie eher als Mittel zum Zweck – um eine Geschichte zu erzählen und die Menschen letztendlich zum Handeln zu bewegen. Untermauert wurde dies durch die Tatsache, dass er später bei seinem Umzug auf einen Hof in Massachusetts viele seiner Original-Negative und -Dias – mehr als 700 insgesamt – in einer Kiste auf dem Dachboden seines alten Hauses in Richmond Hill zurückließ. Seine Werke werden heute in fünf Sammlungen aufbewahrt: Museum of the City of New York, New York Historical Society, New York Public Library, Library of Congress und Sydvestjyske Museer.

Schriftsteller

„Vor langer Zeit sagte man: ‚die eine Hälfte der Welt weiss nicht, wie die andere Hälfte lebt.“

Nach einer Reihe investigativer Artikel über die New Yorker Slums in zeitgenössischen Zeitschriften mit begleitenden Fotos veröffentlichte Riis 1890 sein epochales Werk „How the Other Half Lives“. Es wurde ein Bestseller und erlangte viel Aufmerksamkeit und Anerkennung. Später schrieb er mehr als ein Dutzend Bücher, darunter „Children of the Poor“, das sich mit dem besonders schmerzlichen Thema obdachlose Kinder beschäftigte.

Seine eigene unglaubliche Lebensgeschichte erzählte Riis in dem Buch „The Making of an American“ (1901), seinem zweiten nationalen Bestseller. Es beschrieb die Geschichte des armen und obdachlosen Einwanderers aus Dänemark, die Liebesgeschichte mit seiner Frau, das Leben als hart arbeitender Journalist, der versuchte, sich einen Namen zu machen und etwas zu bewirken, und wie er bekannt, respektiert und ein enger Freund des amerikanischen Präsidenten wurde. Auch heute noch ist das Amerikanisch-Werden eine zeitlose Geschichte.

Vortragsredner und Sozialreformer

„Erbärmliche Häuser machen erbärmliche Menschen“

Der Erfolg seines ersten Buches und sein neu erworbener sozialer Status bedeuteten den Beginn einer Karriere als Sozialreformer. Er hatte gelernt, die neue Form der Multimediapräsentation mit Hilfe einer sogenannten Laterna magica zu meistern, einem Gerät, das Fotografien auf Glas auf eine Leinwand projizierte. Riis wurde eine gefragte Person und reiste durch die gesamten USA, um Vorträge zu halten, die den Zuhörern die Augen öffneten. Er war fest entschlossen, den Amerikanern aus der Mittelschicht die fürchterlichen Bedingungen zu vermitteln, unter denen die Armen in den Großstädten lebten. Mit seiner Argumentation, dass der Mensch von seinem Umfeld geformt wird und jeder ein guter Bürger werden kann, wenn man ihm die Chance dazu gibt, wollte Riis Reformen bei den von der Polizei betriebenen Armenhäusern, den Bauvorschriften, der Kinderarbeit und den öffentlichen Diensten erzwingen.

Riis schrieb nicht nur darüber, sondern versuchte auch aktiv, vor Ort etwas zu bewegen, indem er sich für den Bau neuer Parks, Spielplätze und Häuser für die armen Bewohner einsetzte. Viele dieser Versuche waren erfolgreich. So wurde beispielsweise die Mietskaserne Mulberry Bend „nach 10 Jahren wütenden Protesten und Anstrengungen für sanitäre Verbesserungen“ 1895 abgerissen und ein Park angelegt, der heute als Columbus Park bekannt ist.